Gerd Siegmund nach dem Finale furioso in Planica:
„Diesen Tag hat der Skisprungsport gebraucht“
Domen Prevc, Österreich und Anze Lanisek holten die Tagessiege, Daniel Tschofenig fliegt zur großen Kugel für den Gesamtweltcup und dann noch ein atemberaubender Weltrekord: „Planica hat noch mehr geboten, als zu erwarten war“, schätzte AVIA-Skisprungexperte Gerd Siegmund das geschichtsträchtige Wochenende in den Julischen Alpen ein. Domen Prevc segelte auf 254,5 Meter und übertraf damit die alte Bestmarke von Stefan Kraft (253,5), die der Österreicher 2017 in Vikersund aufgestellt hatte. Im Interview spricht Gerd SIegmund über das Finale furioso und eine turbulente Saison.
AVIA: Hallo Gerd, ein Weltrekord in Planica galt bis Sonntag als fast ausgeschlossen, weil in Vikersund das Schanzenprofil eher für diese gewaltige Weite spricht. Wie hast du den Flug von Domen Prevc erlebt?
Gerd Siegmund: Wahrscheinlich wie so viele mit offenem Mund. Gewaltig beschreibt es wohl sehr gut. Und ich habe mich bei Swiss Timing, die die Videoweitenmessung verantwortet, extra nochmal erkundigt. Es haben diesmal sogar zwei statt nur eine Person das Videobild der Landung inspiziert. Und es gibt keinen Zweifel: Das waren 254,5 Meter! Kaum zu glauben! Nach den vielen Schlagzeilen um den Anzugskandal der Norweger in Trondheim hat der Skisprungsport diesen Tag aber auch gebraucht.
AVIA: Im Netz wird schon diskutiert, ob Prevc nach der Landung ganz leicht mit dem Hintern den Schnee berührt hat. Was sagst du dazu?
Gerd Siegmund: Im Netzt wird sehr viel diskutiert. Ich denke, es ist so völlig in Ordnung, wie es die Wertungsrichter gesehen haben. Sprung gestanden, basta! Ein Telemark ist da ohnehin nicht mehr möglich. Wenn du dort hinspringst, wo es fast schon wieder gerade wird, da heißt es nur, so grade wie möglich aufkommen und die Arme an die Knie, dass es einen nicht nach hinten reindrückt. Genauso stark, wie es Prevc gemacht hat.
AVIA: Was hat der Slowene, was andere auf diesen Monsteranlagen nicht haben?
Gerd Siegmund: Das ist nicht neu. Er ist eben ein Flugkünstler, der ein extremes Gefühl dafür hat und mit der Luft spielen kann. Das macht er nicht mal so sehr mit der Skiführung, mehr mit dem Körper. Das sieht an bei ihm seit mehreren Jahren, vor Planica in Vikersund war es auch so: Umso größer die Schanze, desto besser ist er. Selbst wenn der Absprung nicht sauber gelingt, schaukelt er den Flug immer noch weit runter.
AVIA: Wie bewertest du das Saisonfinale der deutschen Ski-Adler?
Gerd Siegmund: Als sehr gelungen. Es war gut und wichtig, mit Blick auf die kommende Olympiasaison so aus dem Winter rauszugehen. Da haben sich alle nochmal gestrafft und abgeliefert. Platz zwei im Team hinter Österreich hatte sich am Donnerstag angedeutet, als mit Andi Wellinger, Pius Paschke und Markus Eisenbichler drei Deutsche in der Qualifikation vorn waren. Hut ab!
AVIA: Also Ende gut, alles gut?
Gerd Siegmund: Das würde ich so nicht sagen. Denn die zwei Monate lange Durststrecke – beginnend mit der Tournee – muss und wird auch analysiert werden, zumal das nicht das erste Mal in einem Winter passiert ist. Das haben die Verantwortlichen im Skiverband auch angekündigt, dass es da Veränderungen, welche auch immer, geben wird.
AVIA: Änderungen wird es schon zwangsläufig geben, weil zwei etablierte Springer ihre Ski an die Wand nageln …
Gerd Siegmund: Markus Eisenbichler und auch Stephan Leyhe hinterlassen schon eine gewisse Lücke im deutschen Team. Beide haben große Verdienste für das deutsche Skispringen. Markus war natürlich der etwas erfolgreichere. Er hat eine große Bühne zum Abschied bekommen. Die hat er sich auch verdient. Das war emotional und schön anzusehen.
AVIA: Was kommt nach in Deutschland an jungen Talenten?
Gerd Siegmund: Von der Papierform sieht es nicht so gut aus, wenn man sich die Ergebnisse im COC oder Alpencup anschaut. Auch da dominiert Österreich. Aber Philipp Raimund zum Beispiel ist erst 24. Er hat schon bewiesen, dass er zu Spitzenleistungen im Weltcup fähig ist. Dann gibt es noch ein paar Jungs wie Felix Hoffmann, der aber auch schon 27 ist, oder Youngster Adrian Tittel, die ihre Klasse schon angedeutet haben. Sie müssen aber nun den nächsten Schritt gehen.
AVIA: Könnte dabei auch Trainer Thomas Thurnbichler helfen, der gerade als Nationaltrainer in Polen seinen Job verloren hat?
Gerd Siegmund: Darüber möchte ich nicht spekulieren. Er hat in jedem Fall trotz seiner erst 35 Jahre in seinem Heimatland Österreich als Co-Trainer bereits wertvolle Erfahrungen gesammelt. In jedem Fall braucht es in Deutschland gute Konzepte und intensive Arbeit, um sich breiter aufzustellen und den Nachwuchs nach oben zu bringen. Unter diesem Aspekt kann man nur hoffen, dass dies in den nächsten zwei Jahren gelingt, sich die Hoffnungsträger an den etablierten Andreas Wellinger, Karl Geiger oder Pius Paschke orientieren, ihnen aber auch Druck machen.
AVIA: Danke fürs Gespräch.