Die Tage von Polens Nationaltrainer sind gezählt

Ryoyu Kobayashi ist nach dem Auftakt der Vierschanzentournee der Gejagte. Hinter dem Japaner lauern die Norweger um Halvor Egner Granerud und auch Karl Geiger auf einen Ausrutscher des Überfliegers aus Fernost. Das Springen in Oberstdorf hielt bereits einige Überraschungen bereit. Auch für Skisprungexperte Gerd Siegmund, der für uns das Geschehen analysiert.


AVIA: Hallo Gerd. Wie bewertest Du den pitschnassen Auftakt am Schattenberg im Allgäu?

Gerd Siegmund: Aus dem prognostizierten Zweikampf plus X zwischen Kobayashi und Geiger sowie vielleicht einem Geheimfavoriten ist ein Fünfkampf geworden. Die Norweger mischen sehr stark mit. Aus meiner Sicht entscheidet der Springer die Tournee für sich, der im Verlauf die beste Konstanz zeigt. Nach den Eindrücken dieses Winters spricht dies für Kobayashi und Geiger. Aber Granerud darf man keinesfalls außer Acht lassen, zumal es jetzt auf seine Lieblingsschanze nach Garmisch geht.

AVIA: Die mannschaftliche Stärke der Norweger besticht. Welche Gründe siehst Du?

Gerd Siegmund: Dass sie bei den nassen Verhältnissen wie bereits in Klingenthal in der Breite vorn sind, ist zumindest ein Indiz dafür, dass sie mit diesen Bedingungen sehr gut zurechtkommen. Vielleicht haben sie auch etwas in der Skipräparation gefunden, was sie einen Tick schneller macht in der Anfahrt. Die Geschwindigkeiten sprechen dafür. Aber das ist auch nur eine Nuance.

AVIA: Ist das ein Nachteil für Karl Geiger und Co., wenn die Witterung so bleibt?

Gerd Siegmund: Die Geschwindigkeit war bei unseren Top-Leuten nicht das Problem. Auch wenn der Speed bei unseren Springern nicht überragend gewesen ist, hat unser Technikerteam mit Rückblick auf Klingenthal seine Hausaufgaben gemacht.

AVIA: Wie schätzt Du den Auftritt der deutschen Mannschaft insgesamt ein?

Gerd Siegmund: Auf Karl Geiger war wieder einmal Verlass. Markus Eisenbichler hat im ersten Sprung die Chance vertan, vielleicht doch in der Gesamtwertung ein Wörtchen mitreden zu können. Für ihn geht es noch um einen Tagessieg oder Podestplatz. Stephan Leyhe hat sich gut präsentiert. Beim Rest muss man Abstriche machen. Das Thema Konstanz beschäftigt Andreas Wellinger. Pius Paschke und Constantin Schmid haben nicht das gezeigt, was sie können.

AVIA: Dumm gelaufen ist es auch für Severin Freund…

Gerd Siegmund: Ja, und er dürfte doppelt verärgert sein. Wenn Severin nicht wegen eines unzulässigen Anzuges disqualifiziert wird, kann er vielleicht sogar die Olympianorm, oder zumindest die halbe Norm knacken. So steht er mit leeren Händen da. Da ist sicher etwas schiefgelaufen.

AVIA: Auf eine Top-Nationen früherer Jahre trifft das auch zu. Was sagst Du zur Krise der Polen?

Gerd Siegmund: Die ist schon erstaunlich. Wenn ich die Dominanz der Polen in den vergangenen Jahren sehe und jetzt kommt mit Dawid Kubacki nur ein Springer dank des K.-o.-Modus ins Finale, dann ist das schon Wahnsinn, wie schnell es von ganz oben nach ganz unten gehen kann. Wahrscheinlich gibt es das nur im Skispringen. Titelverteidiger Kamil Stoch, der in Polen ein Volksheld ist, ist schon raus aus der Tourneewertung. Ich denke, dort brennt gerade richtig der Baum. Die Tage von Nationaltrainer Michal Dolezal sind wohl gezählt.

AVIA: Stefan Kraft liegt auch schon 45 Zähler zurück. Geht da noch was?

Gerd Siegmund: In der Tourneewertung glaube ich nicht, das wäre schon ein kleines Wunder. Insgesamt hat sich gezeigt, dass Trainer Andi Widhölzl in Österreich noch eine Menge Arbeit vor sich hat. Warum die ganze Mannschaft etwas abfällt, ist schwierig zu beantworten. Ob sie sich mit den neuen rotbraunen Anzügen ein bisschen verzettelt haben, wäre aber reine Spekulation. Auch mein Geheimfavorit Killian Peier hat sein Können nicht auf die Schanze gebracht.

AVIA: Das Neujahrsspringen steht an. Du bist selbst achtmal bei der Vierschanzentournee gestartet. Nach so vielen Jahren kannst Du es unseren Lesern jetzt einmal verraten, wie die Skispringer am Silvesterabend Party feiern, oder?

Gerd Siegmund: Oh, da muss ich Dich leider enttäuschen, kann wenig Unterhaltsames beitragen. Einige Springer erleben Mitternacht gar nicht. Die meisten stoßen im Team kurz an und liegen um halb eins in der Falle. Ich kenne es nur aus Erzählungen von früher, dass zu Silvester auch mal ein paar Springer ins Nachtleben abgetaucht sind. Aber das gibt es ja momentan ohnehin nicht, leider.

AVIA: Dann bis zum nächsten Jahr, Gerd, und Danke fürs Gespräch.

Gerd Siegmund: Ich danke auch und wünsche allen einen guten Rutsch und ein Gesundes Jahr 2022. In der Hoffnung, dass bald wieder die Normalität einzieht, die wir uns alle wünschen. 

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