AVIA: Hallo Gerd. Nach Engelberg ist vor Oberstdorf. Was gibt es aus Deiner Sicht zur Tournee-Generalprobe zu sagen?
Gerd Siegmund: Engelberg ist für Rückenluft bekannt. In diesem Sinne waren es zwei schwierige Springen. Im Grunde hat sich aber an der Standortbestimmung für die Tournee nichts geändert. Halvor Egner Granerud, Markus Eisenbichler und Robert Johansson, die drei ersten im Gesamtweltcup, sind meine Top-Favoriten für das erste Saison-Highlight. Auch Karl Geiger zähle ich zu den Anwärtern auf den Gesamtsieg. Und die Polen würde ich nie abschreiben.
AVIA: Zumal vor einer Tournee oft auch Überraschungen im Materialsektor passieren, oder?
Gerd Siegmund: Nicht nur das. Dawid Kubacki landete im Vorwinter in Engelberg auf den Rängen 47 und 22 und dann hat er die Tournee gewonnen. Kamil Stoch hat in diesem Winter in Einzelsprüngen bereits gezeigt, dass er ganz vorn mithalten kann. Und traditionell ist es tatsächlich so, dass die Nationen zur Tournee neue Anzüge aus dem Koffer holen.
AVIA: Was hast Du von Karl Geiger gehört? Konnte er vergangene Woche überhaupt etwas trainieren?
Gerd Siegmund: Was zu Hause möglich ist, denke ich. Er sagt ja selber, dass er symptomfrei ist. Deshalb gehe ich davon aus, dass sie ihm eine Hantel in die Garage gebracht haben. Letztlich werden aber die Ärzte gemeinsam mit dem Gesundheitsamt entscheiden, ob ein Start möglich ist. Wenn er die Physis - und die ist ja auf einem hohen Niveau - behält, gehört er mit seiner Stabilität sicher zu den Besten.
AVIA: Hat das erste Tourneespringen in Oberstdorf eine besondere Bedeutung mit Blick auf die WM-Nominierung?
Gerd Siegmund: Die WM in Oberstdorf ist noch ziemlich weit weg. Aber ich denke, die vier Springer von der Skiflug-WM, also Eisenbichler, Geiger, Pius Paschke und Constantin Schmid haben derzeit schon sehr gute Karten. Dazu zähle ich auch Martin Hamann. Und sechs Mann wird der Bundestrainer nominieren, weil wir auf der Großschanze durch Eisenbichlers Titel am Bergisel vor knapp zwei Jahren fünf Starter stellen können. Wenn die Entscheidung am Ende eng wird, kann es bestimmt nicht schaden, in Oberstdorf ein Top-Ergebnis vorweisen zu können.
AVIA: Granerud hat fünf Weltcups in Serie gewonnen? Könnte der Norweger jetzt - zu seinem Nachteil - ins Grübeln kommen?
Gerd Siegmund: Das glaube ich nicht. Er ist ein lustiger Zeitgenosse, der immer für einen Schabernack zu haben ist. Und du kannst ja nie gut genug in Form sein. Zudem springt er jetzt schon länger im Gelben Trikot, dürfte sich also daran gewöhnt haben. Auch unter dem Zuschaueraspekt betrachtet, werden es eben normale Springen, nicht mit zwanzig- oder dreißigtausend Fans.
AVIA: Das erste Mal seit der Premiere 1953, als das Event noch Deutsch-Österreichische Sringertournee hieß und Sepp Bradl gewann, werden keine Zuschauer an den Schanzen sein.
Gerd Siegmund: So schade es auch ist, aber die Pandemie lässt es eben leider nicht anders zu. Damit müssen sich alle abfinden. Die Springer werden am meisten vermissen, in ein Fahnenmehr von Tausenden Fans zu fliegen.
AVIA: Kann man dem überhaupt etwas Positives abgewinnen?
Gerd Siegmund: Schwer. Wenn, dann nur aus der Sicht, dass der Trubel nicht ganz so groß wird. Der Athlet hat mehr Ruhe, es gibt weniger Presse- und Sponsorentermine. Dem einen oder anderen kommt das vielleicht zugute. Aber im Großen und Ganzen bin ich mir sicher, dass alle Springer die Fans viel lieber dabei hätten.
AVIA: Danke fürs Gespräch.