AVIA: Hallo Gerd, ist der Bergisel ein Schicksalsberg für deutschen Ski-Adler?
Gerd Siegmund: Das Wort Schicksal ist in Verbindung mit Skispringen vielleicht etwas übertrieben. Aber wenn sich ein paar negative Erlebnisse an einem Ort häufen, wird in den Medien schnell vom Fluch des Bergisel gesprochen oder geschrieben. Aber das muss man schon relativieren. Die Deutschen trainieren im Sommer und Winter oft und auch gut in Innsbruck, hatten eine tolle WM vor knapp zwei Jahren als Welt-, Vize, und Team-Weltmeister. Aber die Anlage hat natürlich ein paar Eigenheiten, die es zu meistern gilt.
AVIA: Die da wären?
Gerd Siegmund: Die Schanze streut gewaltig. Ein kleiner Fehler, minimal zu früh oder zu spät abgesprungen, dazu ein bisschen Rückenwind und schon zieht dich der Hang an wie ein Magnet. Bei einem etwas steileren Auslauf ließe sich vielleicht noch etwas korrigieren mit einem guten Flug. Nicht aber in Innsbruck.
AVIA: Hast Du bei Karl Geigers erstem Sprung einen Fehler entdeckt?
Gerd Siegmund: Das war schwer durch die Kamera-Einstellung zu erkennen. Aber ich meine, dass er zu spät dran war beim Absprung. Das hat auch Stefan Horngacher danach gesagt. Es hatte also nicht wie im Vorjahr am selben Ort mit schlechten Windverhältnissen zu tun. Kurios ist, dass auch Halvor Egner Granerud gepatzt hat, er aber zu früh abgesprungen ist. Beide haben bisher einen schwachen Sprung gezeigt, und der kann dir letztlich leider die ganze Tournee verhageln.
AVIA: Der Bundestrainer hat gemutmaßt, dass seine Top-Leute vielleicht Angst hatten vorm Bergisel aufgrund der negativen Vorerlebnisse. Was denkst Du darüber?
Gerd Siegmund: Danach sucht man natürlich nach Erklärungen. Aber es gibt ja wie erwähnt auch die positiven Erlebnisse im Zusammenhang mit dieser Schanze. Dass bis auf Karl Geiger, Markus Eisenbichler und Martin Hamann der Rest der Mannschaft in den Seilen hängt und sich die Deutschen auch im Training und in der Qualifikation schon in Innsbruck schwer getan haben, sind Indikatoren dafür, dass wir es nicht mit einem Fluch oder ähnlichem zu tun haben.
AVIA: Was bedeutet diese Konstellation für die Aussichten im Finale? Oder anders gefragt: Sind Kamil Stoch oder Dawid Kubacki noch einholbar?
Gerd Siegmund: Dazu müssten ihnen schon Fehler unterlaufen. Was aber Mut macht: Ein Markus Eisenbichler kann ja auch mal zwei so überragende Flüge zeigen wie beim zweiten Sprung in Oberstdorf. Da hat man gesehen, auch wenn es bei dieser Leistungsdichte kaum vorstellbar war, dass mit einem Sprung auch 15 bis 20 Punkte aufzuholen sind. Deshalb besteht immer noch eine kleine Hoffnung.
AVIA: Stoch weiß aber wie Tourneesieg geht. Das hat er 2017 und 2018 und das hat auch Kubacki im Vorjahr gezeigt…
Gerd Siegmund: Die Polen besitzen zweifelsfrei die beste Ausgangslage. Sie haben mit einem „Jetzt-erst-recht-Gefühl“ nach dem zwischenzeitlichen Ausschluss in Oberstdorf die beste Stimmung im Team aufgebaut. Und die Sorgen, die Horngacher mit Freund, Paschke oder Schmid hat, binden sicher auch Energie. Speziell bei Kamil Stoch wird die Frage sein, ob er durch den flachen Anlauf in Bischofshofen noch etwas mehr an Geschwindigkeit verliert. Er ist ja ohnehin oft ein bisschen langsamer als die Top-Konkurrenten unterwegs.
AVIA: Du hast es angesprochen: Martin Hamann gefällt bei dieser Tournee. Kommt es ihm zugute, dass nicht der ganz große Erwartungsdruck auf ihm lastet?
Gerd Siegmund: Druck ist immer da. Martin will zur WM und es macht Freude, ihm zuzuschauen. Bis auf den einen Aussetzer in Oberstdorf bringt er seine Leistung. Und für mich ist ein Top-10-Rang nur eine Frage der Zeit, selbst Platz 6 ist nicht unmöglich, wenn mal alles zusammenpasst.
AVIA: Das klingt gut. Danke fürs Gespräch.