Die Sache mit dem Schliff

Stefan Kraft, Ryoyu Kobayashi und Marita Kramer hießen die Sieger beim Weltcup in der Vogtland-Arena. Die spannenden Springen boten reichlich Diskussionsstoff, auch wenn sie coronabedingt in Sachsen vor leeren Rängen über die Bühne gingen. Skisprung-Experte Gerd Siegmund war in Klingenthal vor Ort. Er verrät uns, warum die Stimmungslage bei den deutschen Ski-Adlern vom Samstag zum Sonntag enorm schwankte.


Avia: Hallo Gerd. Die Fans haben diesen Weltcup vor dem Fernseher verfolgt. Wie war es denn live als Zuschauer in der Arena?

Gerd Siegmund: Schon sehr zwiespältig: Zum einen denkt man sich, Wahnsinn, dieses Superwetter. Am Samstag waren es ja Laborbedingungen, wie es der ehemalige Bundestrainer Reinhard Heß gesagt hätte. Dazu das extrem spannende Springen, mit den zehn Erstplatzierten innerhalb zehn Punkten. Wir hatten schon ein volles Haus in Klingenthal und es konnte nicht gesprungen. Nun die umgekehrte Variante. Es ist einfach nur schade, aber nicht zu ändern. Die Regeln stellen die Länder und Bundesländer entsprechend der Pandemielage auf.

AVIA: Zum Sportlichen und zuerst zu Ryoyu Kobayashi. Von einen Formknick nach seiner Coronainfektion war nichts zu spüren. Wie siehst Du es?

Gerd Siegmund: Ich habe kurz mit ihm gesprochen. Er sagte mir, dass er glaubt, dass er in Finnland einen positiven Falschtest hatte. Er hatte keinerlei Symptome und war auch schon im Mai positiv getestet. Auch nach den zehn Tagen im Hotel in Ruka hat er gezeigt, dass er nichts von seiner Klasse eingebüßt hat. Auch der siebente Platz vom Samstag war so schlecht nicht. Man sieht, der kleinste Fehler und sofort reicht es nicht mehr fürs Podium.

AVIA: Du wolltest in Klingenthal etwas genauer auf Halvor Egner Granerud schauen. Was hast Du beobachtet?

Gerd Siegmund: Platz zwei und fünf sind ein starkes Ergebnis nach Rang 48 in Wisla. Er hat echte Comeback-Qualitäten. Ich denke, sein Problem ist, dass er manchmal in der Anfahrtshocke mit den Füßen in eine kleine Schrittstellung verfällt. Das hat zur Folge, dass er nicht ganz symmetrisch wegkommt vom Tisch und zu lange braucht, bis er in sein Flugsystem kommt. Hat er die Füße parallel im Anlauf, läuft der Sprung besser und er ist immer ganz vorn dabei. 

AVIA: Granerud trug am Sonntag zum „Tag der Norweger“ bei. Wie ist so ein Ergebnis zu erklären?

Gerd Siegmund: Ich bin kein Statistiker, aber fünf Norweger unter den Top 6 in einem Weltcupspringen gab es wohl noch nie. Da haben sie ihrem Trainer, der mit positivem Coronatest im Hotel saß, richtig Freude gemacht. Ohne die Leistung schmälern zu wollen, das hatte an dem Tag auch etwas mit den Anlaufgeschwindigkeiten zu tun.  Da hatten die Norweger bei einsetzendem Regen tolles Material unter den Füßen, was bei anderen, zum Beispiel Markus Eisenbichler oder Karl Geiger, nicht so war. 

AVIA: Wie lässt sich das erklären?

Gerd Siegmund: Es gibt für verschiedene Wetterverhältnisse unterschiedliche Schliffe auf dem Skibelag. Der ist für nasse Bedingungen gröber: Man bleibt mit dem Fingernagel hängen, wenn man drüberfährt. Bei trockenen kalten Verhältnissen ist der Schliff dagegen feiner. Im Grunde geht es darum, das Wasser in der Spur abzuleiten, um den Saugeffekt vom Ski auf der Eisfläche zu reduzieren.

AVIA: Das werden die deutschen Skitechniker um Erik Simon sicher wissen. Was könnte schiefgelaufen sein?

Gerd Siegmund: Wie ich gehört habe, war es eine Verkettung unglücklicher Umstände. Vielleicht hat auch im Zusammenspiel mit Schliff und Wachs etwas nicht so funktioniert. Das Thema wird oder ist bereits analysiert worden, da bin ich sicher. Denn bei nassen Bedingungen haben wir auch schon mal bei der Tournee in Innsbruck nicht so gut ausgesehen.

AVIA: Schade für Klingenthal, aber vielleicht sogar gut, dass es jetzt passiert ist?

Gerd Siegmund: Genauso. Sowas kann mal passieren, aber man muss es auch gut aufarbeiten, gerade mit Blick auf die Tournee oder Olympia. Im Durchschnitt fahren die Deutschen immer sehr gut an, diesmal in einem Sprung nicht. Da die Geschwindigkeit sowieso schon am Limit ist, schleichen sich dann bei einem nicht so guten Fahrgefühl kleine Fehler ein. Und die werden bei dieser Leistungsdichte hart bestraft. Da reicht es dann eben nicht fürs Finale wie bei Markus Eisenbichler. 

AVIA: Trotz Platz 22 für Karl Geiger am Sonntag. Deutschland stellt noch den derzeit besten Skispringer.

Gerd Siegmund: Ja, und ich bin sicher, dass wird ihn nicht aus der Bahn werfen. Das werden wir schon in Engelberg am Wochenende sehen.

AVIA: Noch ein Wort zu den Damen, das fehlt es nach gewaltig an dieser Leistungsdichte, oder?

Gerd Siegmund: Ja, das stimmt, ist aber auch keine Überraschung. Mich hat es vor allem gefreut, dass das Wetter so gut mitspielte und die jungen Damen diese Anlage, die ja fast eine kleine Flugschanze ist, sehr gut gemeistert haben. 

AVIA: Danke Gerd fürs Gespräch.

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