Karl Geigers Glanz und ein Hauch von Hollywood

Was für ein Auftakt der Vierschanzentournee: 59 Jahre nach Max Bolkart gewinnt wieder ein Oberstdorfer in Oberstdorf: Ausgerechnet der „Geiger Karle“, wie er in seinem Heimatort genannt wird, triumphierte am Schattenberg. Über das unglaubliche Quarantäne-Comeback, das Corona-Chaos im Team Polen und einen norwegischen Favoritensturz haben wir mit AVIA-Skisprungexperte Gerd Siegmund gesprochen.


AVIA: Hallo Gerd. Muss die Trainingswissenschaft jetzt neu erfunden werden, wenn der Beste quasi aus der Quarantäne aufs oberste Podest springt?

Gerd Siegmund: Das glaube ich nicht. Ich hatte ja schon erwähnt, dass Karl Geiger sicher nicht zwölf Tage auf dem Sofa lag. Er war symptomfrei, hat sein Kraftprogramm in der Quarantäne absolviert und sich fit gehalten. Und das ist ein großer Unterschied zum Beispiel zu Stefan Kraft, der eine Woche mit den Nasennebenhöhlen zu tun und leichtes Fieber hatte. Letztlich ist es dem Körper ja egal, ob er in der Turnhalle oder der heimischen Garage bewegt wird. 

AVIA: Kommt Karl Geiger bei diesen Rückenwind-Bedingungen seine Absprungkraft zugute?

Gerd Siegmund: Nicht nur die, ich finde, dass er auch im Kopf ganz klar ist und cool bleibt.

AVIA: Ist das der Unterschied zu Markus Eisenbichler?

Gerd Siegmund: Den Eindruck hatte ich ein bisschen, als Markus nach der Qualifikation am ZDF-Mikrofon über die Organisation gemosert hat. Das weiß er im Nachhinein auch, dass so etwas nicht hilfreich ist. Es lenkt ab und hindert einen, bei sich zu bleiben. Kaum auszudenken, wenn Markus im ersten Sprung ein paar Punkte weniger hat und er den zweiten Sprung nicht mehr bekommt. Zum Glück ist das nicht passiert. Die Szene zeigt aber auch: Alle stehen unter Strom. Auch wenn keine Zuschauer da sind, es ist eben die Tournee. 

AVIA: Nur drei von zwölf Deutschen erreichten das Finale in Oberstdorf. Wie schätzt Du das ein?

Gerd Siegmund: Das hat mich schon überrascht und ist sicher etwas ernüchternd. Der Anlauf war am Limit, wenn dann ein kleiner Fehler passiert, ist man schnell weg vom Fenster. Ich bin mir sicher, dass der Bundestrainer und auch der verantwortliche Coach des B-Kaders, Christian Winkler, das Springen nochmal gründlich mit den Athleten analysieren werden.

AVIA: Soviel Turbulenzen gab es selten zum Auftakt einer Tournee, oder hast Du ähnliches schon mal erlebt?

Gerd Siegmund: Das war ein bisschen wie Hollywood. Ein besseres Drehbuch hätte es kaum geben können. Erst der positive Test von Klemens Muranka, dann die Quarantäne der Polen, schließlich die Annullierung der von Schneefall und Wind beeinflussten Qualifikation. Und am Ende durfte Polen plötzlich wieder springen. Also langweilig geht anders.

AVIA: Wie bewertest Du das Corona-Hickhack rund ums polnische Team?

Gerd Siegmund: Unverhofft kommt Stoch, könnte man sagen. Aber ich finde die Entscheidung richtig und sportlich fair. Gleichzeitig wirft es die Frage auf, wie aussagekräftig sind die Testungen, die zum Tourneebeginn vorgenommen wurden. Vielleicht ist da auch was schief gelaufen. Das wird aber gerade mit Blick auf die WM sicher auf den Prüfstand gestellt. Ich bin aber kein Mediziner, um das beurteilen zu können. 

AVIA: Ist das nicht irre, dass ein Tourneesieger abhängig davon ist, ob sein Teamkollege einen positiven Coronatest hat oder nicht?

Gerd Siegmund: So sind die Gegebenheiten. Und klar kann man die Frage stellen, wie gut die Hygienekonzepte der Teams sind, wie sie umgesetzt werden, auch, ob die Nationen den hohen Aufwand betreiben wollen oder finanziell überhaupt dazu in der Lage sind. Sicher gibt es keine Garantien, weil ja alle Sportler irgendwann mal ihre Blase verlassen und wieder in den Alltag kommen. Aber man kann auch viel dafür tun, das Risiko zu minimieren.

AVIA: Inwiefern?

Gerd Siegmund: Da geht es zum Beispiel um die Frage, erfolgte die Anreise im Bus oder in Autos entsprechend der Zimmeraufteilung im Hotel. Ich weiß, dass die Deutschen da viel investieren. Es gibt Einzelzimmer, Einzeltische beim Essen, A- und B-Team sind auch bei der Tournee getrennt unterwegs. Es wird streng auf das Tragen der Maske geachtet. 

AVIA: Zum Abschluss noch ein Wort zu den Norwegern.

Gerd Siegmund: Marius Lindvik hat mich positiv überrascht. Er ist ja im Vorwinter erst ab Garmisch so richtig in Erscheinung getreten. Bei Johansson hat es sich in Engelberg schon ein bisschen angedeutet. Er ist ein ausgesprochener Flieger, beim Absprung fehlen ihm vielleicht ein paar Prozente. Das hat ihn in Oberstdorf gleich die Tournee gekostet. Granerud ist technisch nicht ganz so sauber gesprungen. Aber mit ihm rechne ich nach wie vor ganz stark.

AVIA: Könnten die Zahnschmerzen von Lindvik auch ein Bluff sein?

Gerd Siegmund: Nein, das stimmt zu 100 Prozent. Er hat am Weisheitszahn eine offene Stelle, war in Oberstdorf beim Zahnarzt. Sein Start stand sogar in Frage. Das hat mir Trainer Alexander Stöckl erzählt, worauf ich ihm gesagt habe: Ich kenne einen Springer, der mit Zahnweh die Tournee gewonnen hat. Der heißt übrigens Jens Weißflog. 

AVIA: Danke fürs Gespräch.

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